Innovation in der Demokratie: Legitimität durch proportionale Abstimmungsmethoden

Die Digitalisierung eröffnet neue Formen des Abstimmens. Wie soll die Stimmabgabe ausgestaltet sein? Was wird als legitim angesehen? Eine Studie zeigt, dass proportionale Abstimmungsmethoden zu mehr Legitimität führen.
Dank der Digitalisierung können Online-Plattformen eingesetzt werden, auf denen Bürger:innen ihre Stimme abgeben können. Wie wirkt sich der Einsatz solcher Instrumente auf das Vertrauen in demokratische Institutionen und die Wahrnehmung politischer Legitimität aus? Ein Forschunsprojekt unter der Leitung von Regula Hänggli (Universität Freiburg) nahm das Projekt «Participatory Budgeting» aus Aarau als Fallstudie, um diese Frage zu beantworten. Dabei hatten die Bürger:innen die Möglichkeit Projekte einzureichen, die sie in der Stadt gerne umgesetzt haben wollten. Daraufhin erfolgte eine Machbarkeitsprüfung und anschliessend konnten die Aarauer:innen digital in einer proportionalen Abstimmung über die Projekte entscheiden. Die Personen hatten dabei nicht – wie sonst üblich – nur eine Stimme, sondern konnten zehn Punkte auf mindestens drei Projekte verteilen. Im Gegensatz zu mehrheitsbasierten Abstimmungen – bei denen das Projekt gewinnt, das die meisten Stimmen erhält – spielte hier auch das Budget des Projektes eine Rolle. Jeder Person wurde ein gleicher Teil des Budgets zugewiesen. Dieses Budget konnte nur zur Finanzierung von Projekten verwendet werden, für welche die Person gestimmt hatte. Ein Projekt wurde dann ausgewählt, wenn es mit den Budgetanteilen der Personen, die für das Projekt gestimmt hatten, finanziert werden konnte. Teurere Projekte benötigten entsprechend mehr Stimmen. Die Projekte wurden anschliessend im Rahmen des zur Verfügung gestellten Budgets umgesetzt.
Die wichtigsten Erkenntnisse
Mit dieser Methode konnte die Bevölkerung der Stadt Aarau digital über 33 verschiedene Projekte abstimmen, von denen 17 ausgewählt und bis Ende 2024 realisiert wurden. Vor und nach der Umsetzungsphase wurde die Bevölkerung zum Vertrauen, der empfundenen Legimität und zu ihrer Handlungskompetenz befragt, um Veränderungen in Ansichten und im Verhalten zu untersuchen. Die Fallstudie zeigt: Kommt eine proportionale Abstimmungsmethode zum Zug, erhöht das die Legitimität und das Vertrauen.
Zudem haben digitale Instrumente dann einen Nutzen, wenn sie von Anfang an auf die Bedürfnisse der Nutzer:innen ausgelegt werden und technische Anforderungen mit demokratischen Werten verbinden (wertebasiertes Design). Es braucht Transparenz in Abläufen, Entscheidungskriterien und Verantwortlichkeiten, damit digitale Verfahren von Menschen als legitim anerkannt werden. Die Plattform muss ausserdem so gestaltet sein, dass sie zentrale gesellschaftliche Werte wie Fairness und Inklusion wiederspiegelt. Und es braucht Vor- und Nachbefragungen, um die Wirkung auf Vertrauen, Legitimität und politische Kompetenz zu erheben und anzupassen.
Bedeutung für Politik und Praxis
Eine Online-Plattform ermöglicht es Bürger:innen, aktiv und niederschwellig an politischen Entscheidungen teilzuhaben und sie mitzubestimmen. Das Forschungsprojekt leistete einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung demokratischer Entscheidungsverfahren im digitalen Zeitalter und zur fairen Verteilung der Ressourcen. Und es zeigt, dass Stimmabgaben anhand von zehn Punkten die Präferenzen der Wähler:innen in den verschiedenen Projektkategorien besser widerspiegeln als die sonst übliche Stimmabgabe von einer Stimme. Neue (proportionale) Abstimmungsmethoden können die wahrgenommene Legitimität und das Vertrauen im Gegensatz zu traditionellen (mehrheitsbasierten) Verfahren stärken. Denn mit der Online-Plattform in Aarau wirkten der Prozess und die neue Abstimmungsmethode direkt auf das Vertrauen der Teilnehmenden in demokratische Prozesse – und darauf, wie legitim sie die politischen Entscheidungen betrachten. Dass viele Aarauer:innen sich eine Fortsetzung des Projekts wünschten, zeugt vom Erfolg dieser digitalen Entscheidungsfindungsmethode und zeigt, dass ein Budgetprozess geeignet ist, um Bürger:innen in die Politikgestaltung einzubeziehen. Proportionale Abstimmungsmethoden können in Städten und Gemeinden, aber auch auf kantonaler oder nationaler Ebene eingesetzt werden.
Drei Hauptbotschaften
Legitimität hat mehrere Dimensionen. Ob ein politischer Entscheid als legitim empfunden wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Ob man mitbestimmen kann (Input), wie fair der Prozess ist (Throughput) und wie zufrieden man mit dem Ergebnis ist (Output). Bei traditionellen Abstimmungen werden diese Aspekte oft gemeinsam wahrgenommen. Bei neuen Formaten, wie in diesem Beispiel dem partizipativen Budgetprozess, wurden sie getrennt beurteilt – die Menschen überlegten aktiver, ob der Ablauf und das Ergebnis fair waren. Besonders wichtig ist dabei die Qualität des Verfahrens. Allerdings kann selbst ein fairer Prozess unzufriedenstellende Ergebnisse nicht vollständig kompensieren, was die komplexe Wechselwirkung der Legitimitätsdimensionen verdeutlicht.
Proportionale Abstimmungen werden als gerechter empfunden. Wenn Menschen ihre Stimme auf mehrere Projekte verteilen können und die Auswertung nach einem proportionalen Verfahren erfolgt, fühlen sie sich im Vergleich zu klassischen Mehrheitsverfahren besser vertreten, empfinden den Prozess als fairer und sind zufriedener mit dem Ergebnis. Proportionale Abstimmungen können daher die Legitimität auf allen Ebenen stärken.
Abstimmungen sollten zur Situation passen. Wenn Abstimmungsmethoden an den konkreten Entscheidungsfall angepasst werden, können sie gerechter, inklusiver und glaubwürdiger sein. Das Projekt zeigt: Besonders in schwierigen oder vielfältigen Situationen helfen partizipative Verfahren. Digitale Tools bieten neue Möglichkeiten, solche Abstimmungen umzusetzen – aber es gibt auch Hürden, etwa beim Zugang. Damit solche Methoden auch landesweit funktionieren, braucht es noch mehr Forschung. Anwendungsfelder sind auch andere Entscheidungen betreffend der Verteilung von Geldern oder Ressourcen.
Wie die Forschenden methodisch genau vorgegangen sind und weitere Hintergründe zum Forschungsprojekt finden Sie auf der NFP 77-Projektwebseite:
Weitere Forschungsprojekte zum Thema «Digitale Transformation» im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes NFP 77 finden Sie hier:
