Computersysteme verbessern Diagnosen in der Notaufnahme nicht zwangläufig

Computergestützte Diagnosesysteme verbessern derzeit weder Diagnosesicherheit noch Patientenergebnisse in Notaufnahmen – sie verändern aber den Diagnoseprozess.
Diagnosefehler gehören zu den grössten Risiken in der Notfallmedizin. Weltweit leiden jährlich Hunderttausende Patient:innen unter Fehldiagnosen, nicht selten mit schwerwiegenden Folgen. Um Ärzt:innen zu unterstützen und Diagnoseprozesse zu erleichtern, werden heute in vielen Notaufnahmen der Schweiz computergestützte Diagnosesysteme (CDDSS) eingesetzt. Nun zeigt eine Studie unter der Leitung von Wolf Hautz (Universität Bern): CDDSS bringen in der Praxis weder eine messbare Verbesserung der Diagnosen noch einen Vorteil für Patient:innen. Aber: Sie nehmen auf andere Weise Einfluss auf die Arbeit von Ärzt:innen.
Die wichtigsten Erkenntnisse
In einer gross angelegten Studie bei über 1200 Patient:innen in vier Schweizer Notfallstationen hat das Forschungsteam bei der Hälfte der Patient:innen Diagnosen mit CDDSS-Unterstützung gestellt, bei der anderen Hälfte nach gängiger Praxis. Weil diese Symptome häufig von Fehldiagnosen betroffen sind, wurden Patient:innen mit Bauchschmerzen, Fieber unbekannten Ursprungs sowie unspezifischen Beschwerden in die Studie einbezogen.
Das Ergebnis: In beiden Gruppen trat bei rund 18 Prozent der Patient:innen ein sogenanntes «diagnostisches Qualitätsrisiko» auf – also etwa eine falsche oder nachträglich korrigierte Diagnose, eine unerwartete Intensivstation-Aufnahme oder eine erneute Konsultation innerhalb von 14 Tagen. Weder die Sterblichkeit noch die Kosten oder die Aufenthaltsdauer unterschieden sich zwischen den Gruppen. Überraschend war zudem, dass die Systeme in der Praxis oft anders genutzt werden als gedacht: Ärzt:innen verwendeten sie eher zur Bestätigung ihrer eigenen Hypothesen, anstatt neue Differenzialdiagnosen zu entdecken.
Bedeutung für Politik und Praxis
Die Ergebnisse machen deutlich, dass digitale Diagnosesysteme nicht automatisch zu besseren Resultaten führen. CDDSS können den diagnostischen Prozess aber beeinflussen, indem sie das Verhalten der Ärzteschaft verändern – so halten junge Mediziner:innen zum Beispiel seltener Rücksprache mit erfahreneren Kolleg:innen.
Die Resultate der Studie zeigen, dass digitale Diagnosesysteme sowohl medizinische Prozesse als auch die Beziehung zwischen Patient:innen und Ärzteschaft verändern. Um Diagnosefehler reduzieren zu können, sollte die Einführung von digitalen Diagnosesystemen mit einem realistischen Blick auf die Grenzen der Technik und mit einem gesamtheitlichen Blick auf Menschen, Prozesse und Interaktionen erfolgen.
Drei Hauptbotschaften
Diagnosefehler sind in der Notfallmedizin ein häufiges Problem und können gravierende Folgen haben.
Computersysteme zur Unterstützung medizinischer Diagnosen bewirken aktuell keine Verbesserung der Diagnosen in der Notfallmedizin.
Computersysteme zur Unterstützung medizinischer Diagnosen verändern den Diagnoseprozess anders als erwartet, bewirken seltenere Nachfragen von Personen in Ausbildung und werden je nach Arzt bzw. Ärztin und Kontext sehr unterschiedlich eingesetzt und wahrgenommen.
Wie die Forschenden methodisch genau vorgegangen sind und weitere Hintergründe zum Forschungsprojekt finden Sie auf der NFP 77-Projektwebseite:
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