Digitalisierung als Wettbewerbsvorteil: Wie Hochschulen den digitalen Wandel strategisch nutzen

Eine NFP 77-Studie zeigt, wie Schweizer Hochschulen die Digitalisierung gezielt nutzen – nicht nur für Forschung, Lehre und Weiterbildung, sondern auch, um sich im Wettbewerb um Ressourcen, Reputation und Einfluss zu behaupten.

Hochschulen und Fachbereiche nutzen die Sichtbarkeit und Relevanz des Themas Digitalisierung, um ihr Profil zu schärfen, neue Studiengänge und Forschungsfelder zu etablieren und sich als Vorreiterinnen zu präsentieren. Dies die zentrale Erkenntnis eines NFP 77-Forschungsprojekts unter der Leitung von Katja Rost (Universität Zürich). Das Forschungsteam untersuchte, welche Strategien Hochschulen und Disziplinen in der Schweiz einsetzen, weil sie darin Chancen und Opportunitäten erkennen – und um sich einen relativen Vorteil zu verschaffen.

Die wichtigsten Erkenntnisse

Schweizer Hochschulen stehen im Wettbewerb zueinander – um finanzielle Mittel, Personal, Aufmerksamkeit, Deutungshoheit, Reputation und Legitimität. Viele Akteurinnen nutzen die digitale Transformation, um sich im Wettbewerb um Ressourcen einen Vorteil zu verschaffen und sich zu profilieren. Das Forschungsteam vom Soziologischen Institut der Universität Zürich hat anhand der digitalen Transformation deutlich gemacht, dass Hochschulen und Fachbereiche eine hohe Anpassungs- und Innovationsfähigkeit haben.

Die Digitalisierung ist auch deshalb besonders interessant, weil sie fast alle Disziplinen beschäftigt und nicht nur die wissenschaftlichen Methoden, sondern auch die Arbeit an den Hochschulen selbst verändert. Das Projekt hat die Dimensionen des digitalen Wandels an Hochschulen aufgezeigt: Auf inhaltlicher Ebene löst die Digitalisierung die Entwicklung neuer Forschungsfelder, Themen, Disziplinen und Studiengänge aus. Administrativ spielen der Ausbau von Infrastrukturen für Forschung und Lehre sowie die Weiterentwicklung von Lehrformaten und -methoden eine Rolle. Auch die Digitalisierung der wissenschaftlichen Arbeit – von der Datenerhebung über die Auswertung bis zur Publikation – prägt den Wandel.

Bedeutung für Politik und Praxis

Die Ergebnisse liefern neue Einblicke, wie Wettbewerbsmechanismen Innovation und Anpassungsfähigkeit fördern – und welche Chancen und Risiken sich daraus für die zukünftige Entwicklung des Schweizer Hochschulsystems ergeben. Das Projekt leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Hochschul- und Wissenschaftsforschung in der Schweiz und ermöglicht, Veränderungsprozesse gezielt zu beobachten.

Drei Hauptbotschaften

  1. Die autonomen Hochschulen in der Schweiz zeigen ein hohes Mass an Initiative und Reaktionsfähigkeit, wenn es darum geht, ein als zukunftsrelevant erachtetes Thema in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Eine wichtige Erklärung dafür ist, dass auch formal autonome Universitäten auf materielle und immaterielle Ressourcen angewiesen sind, nämlich auf Reputation, Aufmerksamkeit, finanzielle Unterstützung durch ihre Trägerschaft und auf die Rechtfertigung (Legitimation) ihrer nahezu vollständigen öffentlichen Finanzierung. Alle Akteure – von den Universitäten und ihren teilautonomen Einheiten bis hin zu den einzelnen Wissenschaftler:innen – suchen nach Möglichkeiten, ihre relative Position bei der Ressourcensicherung gegenüber anderen zu verbessern. Dies nimmt oft die Züge eines Wettbewerbs an, wobei je nach Akteurin und Ebene sehr unterschiedliche Wettbewerbsräume entstehen. In all diesen Räumen ist es für Beobachter:innen wichtig, zwei Dimensionen zu unterscheiden: einerseits die rhetorische Aneignung des Themas «Digitalisierung» auf der Ebene der Selbstdarstellung und andererseits die Aneignung des Themas in Forschung, Lehre und Weiterbildung. Die Hochschulen sind sehr aktiv und kreativ, wenn es darum geht, sich als relevante Akteurinnen einzubringen oder ein aktuelles Thema für ihre Interessen und Zwecke zu nutzen. Dies kann zumindest bis zu einem gewissen Grad als Indiz dafür gewertet werden, dass das durch die Reformen seit den 1990er-Jahren aufgebaute und weiterentwickelte Governance- und Finanzierungssystem eine positive Wirkung zeigt.
  2. Es herrscht Wettbewerb im Schweizer Hochschulsystem. Dieser wirkt sich insbesondere auf die Bereitschaft und Aktivität aus, neue Themen aufzugreifen und somit neue Möglichkeiten für die Verfolgung der eigenen Interessen zu eröffnen.
    Auf allen Ebenen versuchen die Hochschulverwaltungen, Forscher:innen, Forschungsgruppen sowie Fachbereiche und interdisziplinäre Gemeinschaften relative Vorteile zu erlangen im Wettbewerb um finanzielle Mittel, Personal, Karrierepositionen, Aufmerksamkeit, Deutungshoheit, Reputation und Legitimität. Das Thema «Digitalisierung» hat gezeigt, dass dieser Wettbewerb vielschichtig ist – oder besser gesagt, dass viele Akteur:innen dieses Thema nutzen, um sich im Wettbewerb um Ressourcen einen Vorteil zu verschaffen und sich zu profilieren. Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens kann «Digitalisierung» in einer breiteren Perspektive als ein Beispiel verstanden werden, um die Anpassungs- und Innovationsfähigkeit von Hochschulen angesichts neuer, teilweise wettbewerbsgetriebener Fragestellungen zu untersuchen und zu verstehen. In dieser Perspektive kann der «Digitalisierung» als Beispiel für die Analyse der Wettbewerbsfähigkeit und der Strategien von Hochschulen und Forscher:innen dienen. In diesem Zusammenhang ist die «Digitalisierung» ein interessantes Beispiel, weil sie fast alle Disziplinen herausfordert, da sie auch die wissenschaftlichen Methoden und die Arbeit selbst verändert. Zweitens kann der Wettbewerbsrahmen in einer engeren und inhaltsspezifischen Perspektive helfen, die digitalen Aktivitäten an Hochschulen und in der Wissenschaft zu interpretieren und zu erklären.
  3. Es ist wichtig, die Dimensionen zu klären, in denen die Digitalisierung an und durch Hochschulen beobachtet und untersucht werden kann. Digitalisierung ist ein sehr allgemeiner Begriff für einen sehr vielfältigen und vielschichtigen Prozess. Für den Bereich der Schweizer Hochschulbildung hat das Forschungsteam einige ausgewählte Dimensionen dieses Wandels empirisch untersucht, wobei der Fokus auf Dimensionen lag, die durch aktives, interessengeleitetes Handeln getrieben werden, sei es in einer Bottom-up- oder einer Top-down-Logik. Die Ebenen und Dimensionen umfassen die inhaltliche Ebene, die sich in neuen Forschungsbereichen, neuen Forschungsthemen, neuen Disziplinen, aber auch neuen Studiengängen niederschlägt. Auf administrativer Ebene sind die Infrastrukturen für Forschung und Lehre sowie die didaktische Dimension der Lehrformate und -formen relevant. Weiter gibt es den Aspekt der Digitalisierung der wissenschaftlichen Arbeit selbst, ihrer Veröffentlichung und Auswertung. Hinzu kommen die externen Effekte der Forschungs- und Lehrtätigkeit der Hochschulen.

Wie die Forschenden methodisch genau vorgegangen sind und weitere Hintergründe zum Forschungsprojekt finden Sie auf der NFP 77-Projektwebseite:

Weitere Forschungsprojekte zum Thema «Digitale Transformation» im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes NFP 77 finden Sie hier: